Im menschengemachten Gelände findet die Wildnis ihr letztes Refugium.
       (In man-made terrain wilderness finds its last resort.)

Hintergrund/Background


Hintergrund

Wie eine gewaltige Narbe zieht sie sich durch das Hügelland. Mit ihrer schroffen Topographie wirkt die steile, tiefe Schlucht in der sanft gewellten Landschaft eigenartig fremd. Obwohl augenscheinlich von Menschen angelegt, ist der ursprüngliche Zweck des Bauwerks nicht mehr ohne Weiteres zu erkennen. Vom oberen Rand aus offenbaren sich dem Betrachter nur die Kronen der Bäume, die unten wachsen. Wer nach dem Abstieg über die steile Böschung den Grund erreicht, entdeckt dort die Reste einer Bahnstrecke, von einer grünen Wildnis überwuchert.
      Während des Kaiserreiches hatte man mit dem Bau begonnen. Das Projekt war ambitioniert: eine zweispurige Trasse mit großen Kurvenradien, mehrere Tunnels, Viadukte und Geländeeinschnitte sollten Höhenunterschiede möglichst ausgleichen. Das Gelände, das nichts als ein Hindernis für den effizienten Verkehr war, wurde begradigt, wurde nivelliert. Wirtschaftliche Erwägungen spielten dabei keine Rolle. Das Militär plante nämlich bereits den nächsten Krieg, und diese Bahnstrecke war Teil davon. Schließlich brauchte man leistungsfähige Bahnverbindungen, um der Kriegsmaschinerie einen steten Nachschub an Soldaten zuzuführen. Dafür war es indes zu spät; bevor man die Gleise verlegen konnte, brach der Krieg bereits aus. Letztlich endete das teuerste Bahnprojekt des gesamten Deutschen Reiches als unrentable Nebenstrecke. Ende der 1970er Jahre wurde der Betrieb eingestellt.
      Der enge, steile Geländeeinschnitt stellt eine Landschaft eigener Prägung dar, völlig verschieden von seiner Umgebung. Oben ist die Kulturlandschaft, geprägt durch Land- und Forstwirtschaft. Unten entstand in den Jahrzehnten der Vernachlässigung eine chaotische Wildnis. Über eineinhalb Jahre bin ich regelmäßig hierher gekommen, um zu entdecken und zu photographieren. Es ging mir nicht zuletzt darum, ein Zeugnis dieser einzigartigen Landschaft zu bewahren - denn die Umwandlung in einen Radweg stand unmittelbar bevor.
      Im Wechsel der Jahreszeiten stellt sich der Ort dem Betrachter unterschiedlich dar. Im Sommer wähnt man sich in einem Dschungel. Es ist feucht und dämmrig, durch die Baumkronen dringt kaum ein Sonnenstrahl nach unten. Der Gleisschotter verschwindet unter einem Teppich von Milzkraut. Umgestürzte Bäume bleiben liegen, ihre Stämme sind von Moos bedeckt. Farne gedeihen in prächtigen Rosetten. Die Einbauten des Bahnbetriebes verschwinden fast inmitten des üppig wuchernden Grüns. Ihrer Funktion beraubt, wirken sie wie rätselhafte Artefakte einer längst untergegangenen Zivilisation. Im Winter jedoch, nicht mehr verdeckt durch die wilde, ungezügelte Vitalität der Natur, wird die Brutalität des Erdbauwerkes offensichtlich. Hoch und steil ragen die Böschungen über dem Betrachter auf, mühsam gebändigt durch Beton, der mittlerweile zu bröckeln beginnt.
      Mit jeder weiteren Exkursion teilt sich eine Landschaft dem Entdecker ein wenig mehr mit, indem sie auf dessen Gestimmtheit zurückwirkt. Ich kenne Landschaften, die mich in sich aufnehmen; sie werden wie alte Freunde, die man gern besucht. Hier aber ist das nicht der Fall. Vielleicht ist es der Dauerdämmer, vielleicht auch die klaustrophobische Enge der steilen Böschungen - für mich fast greifbar ist eine schwermütige Atmosphäre, die mich bedrückt. Dieser Ort ist für mich stets im Wortsinne un-heimlich geblieben. Andererseits zeigt er gerade im Sommer eine Art morbider Schönheit, die mich immer wieder in ihren Bann zieht.

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Background

A giant scar blemishes the rolling countryside. Due to its precipitous topography, the deep and narrow gorge appears alien to the gentle landscape surrounding it. Even though it is obviously a man-made structure, its original purpose isn’t immediately apparent. Only the canopy of trees growing at the bottom is visible from the rim. After descending the steep slope, one discovers the remains of a disused railway track, overgrown by exuberant vegetation.
      The construction had been initiated by the German Empire. It was an ambitious project, featuring dual tracks with wide curve radii. Several tunnels, viaducts and cuts were required to reduce the grade. The terrain was an obstacle to efficient traffic and consequently had to be leveled and straightened. In fact, profitability had never been taken into consideration. To wit, the German military already planned for the next war, and this track was part of it. After all, performant railway service was required to provide a constant supply of soldiers to the war machinery. However, it had already been too late: the war began before the tracks could be laid. Ultimately, the most expensive railway track project of the German Empire ended as an unprofitable secondary line. Towards the end of the 1970s the service has been abandoned, and the track dismantled.
      The precipitous, narrow railway cutting is a landscape in its own right, completely different from the surroundings. Up above is a cultural man-made countryside, characterized by agriculture and forestry. Down below decades of neglect gave rise to a chaotic wilderness. Over one and a half year, I regularly visited this place in order to discover and to photograph. Last but not least, I wanted to preserve a testimony of this unique landscape, as its conversion to a cycling track had been imminent.
      Throughout the seasons the place presents itself in distinct ways to the observer. During summer it resembles a jungle. The air is humid and the light dim, as hardly a sun ray makes it through the dense tree tops. The track ballast is overgrown by a thick carpet of Golden Saxifrage. Toppled trees lie on the ground, their trunks covered with moss. Ferns thrive in magnificent rosettes. The remaining railway installations almost vanish among the exuberant vegetation. Bereft of their function, they are reminiscent of mysterious artifacts created by a civilization perished long ago. Winter, however, removes the veil provided by rampant nature and the brutalism of the structure becomes obvious. High and steep escarpments tower over the visitor, concrete reinforcements which already start to crumble hardly keep rocks and soil in check.
      On each subsequent excursion, a landscape reveals a bit more about itself to the discoverer by retroacting on his mind. I came to know landscapes which generously hosted me; they became old friends which I looked forward to visit. However, this did not apply to the railway cutting. Be it owing to the dimness, or to the claustrophobic narrowness - an oppressing, gloomy atmosphere was almost palpable during all my visits. Thus, it never really became familiar to me. On the other hand, the place often revealed a morbid beauty which cast its spell over me - especially in summer.

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